Interview mit
Madame Ulla Falke, der ehemaligen
Leiterin des Kastanienmuseums in Joyeuse (Frankreich)
Gesprächspartner Willy Schächter, Museumsleiter
des Deutschen Schuhmuseums Hauenstein
Ihr Name, Frau Falke, klingt so gar nicht nach Südfrankreich
und der südlichen Ardèche?!
Mein Mann und ich wohnten vorher im Elsass, und es zog
uns in ein wärmeres Klima; in der Ardèche verliebten wir uns sofort in die
alten Steine und liessen uns 1995 hier nieder. Die Edelkastanie hatte ich in
den 80-er jahren erst kennen und lieben gelernt, und zwar in Italien.
Das Deutsche Schuhmuseum Hauenstein hat bei seinen Recherchen um den
kostbaren Kastanienschuh schon vor einigen Jahren von Ihnen hervorragende
Informationen zu diesem Exponat bekommen. Wie hatten die Ardèche-Bauern diesen
eigenartigen Bauernschuh bei der Kastanienernte eingesetzt und was
bedeutet eigentlich der Begriff „soles“?
Die „soles“ wurden in den eher entlegenen Dörfern der
Cevennen zum Entfernen der dünnen braunen Innenhaut (die „tan“) der getrockneten
Edelkastanie benutzt. Man gab die getrockneten Kastanien in einen Holzbehälter
oder auf die Erde, dann trat man sie wie die Weintrauben, entweder zu zweit
oder zu mehreren im Kreis. Diese Arbeit geschah im genauen Rhythmus. Ihr
erfolgreiches Ende : eine in den zu bearbeitenden Haufen Kastanien geworfene
Geldmünze musste zum 2. Mal an der Oberfläche erscheinen, daran las man ab,
dass die Arbeit getan war und man sich ausruhen konnte! Dies ist kein Märchen,
sondern wurde mir des öfteren bestätigt von alten Ardèche-Bauern. Die „soles“
dienten somit dem „verfeinernden“ letzten Arbeitsgang, nachdem die Kastanien
bereits mit anderen, nicht minder
schweren Geräten vorgeschält worden waren.

In der Ardèche hieß die
Kastanie auch „Baum des Lebens“ oder „Brotbaum“. Was meinte man à
l’époque damit?. War die Kastanie so wichtig im Jahreskreis der Bauern?
À l’époque, das war im Mittelalter; die
Edelkastanie ersetzte hier das Getreide, für dessen Anbau in grossen Mengen es
bei dem Terrassenanbau einfach keinen Platz gab, und die Kastanien waren ja da.
So wurden sie zum Grundnahrungsmittel und das schönste Symbol dafür ist
natürlich das Brot. Das Trocknen der Früchte war und ist die einzig mögliche
Art und Weise die Edelkastanie in unserem mediterranen Klima lange Zeit
aufzubewahren; um sie zuzubereiten, weicht man sie am Vorabend in Wasser ein,
genauso wie andere getrocknete Gemüse oder macht Mehl daraus.
In Südfrankreich gibt es richtige Kastanien-Plantagen. Man nennt diese
Kultur die castanéïculture und der Kastanienwald heisst Châtaigneraie.
Seit wann gibt es die Kulturpflanze in Ihrer Heimat und wie groß ist heute noch
die wirtschaftliche Bedeutung in der Süd-Ardèche?
Die Edelkastanie ist
bereits vor 8-9 Millionen Jahren in der Ardèche heimisch gewesen; das beweisen
heute Funde von versteinerten Kastanienblättern und Früchten. Später verlor
sich infolge der Eiszeiten etc. die Spur des Baumes, und im Mittelalter fand
man sie wieder in den Steuerbüchern : getrocknete Kastanien dienten als
Zahlungsmittel für Steuern und Schulden. So wissen wir heute, dass die Kastanie
spätestens seit dem Mittelalter diese besonders wichtige Rolle in der Ardèche
spielte und auch, dass man sie zur Aufbewahrung trocknete. Ab dem Ende des 19.
Jahrhunderts sprechen wir allerdings vom sog. Niedergang der Kastanienkultur in
unseren Breiten, von den ehemals 60 000 Hektar gut unterhaltener Kulturen sind
heute, nach etwas mehr als 100 Jahren, nur noch ca. 6 000 übrig.
Gründe dazu waren
insbesondere : 1. Seit Beginn des 18.
Jahrhunderts wurde die Edelkastanie teilweise durch den für die
Seidenraupenzucht unerlässlichen Maulbeerbaum verdrängt. Mit dem durch die
Seidenkokons verdienten Geld konnte man es sich dann leisten gutes Getreide
einzukaufen, sodass die Edelkastanie als Nahrungsmittel an Bedeutung verlor.
2. Anfang des 20.
Jahrhunderts dezimiert die sog. „Tintenkrankheit“ den Kastanienbestand
erheblich. Sie wird durch einen Pilz hervorgerufen und kann bis zum heutigen
Tag nicht behandelt werden, sodass der Baum langsam aber sicher abstirbt.
3.
Ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts wird das Tannin im Holz der Edelkastanie
als bester Gerbstoff in der
Lederproduktion entdeckt, und es entwickelt sich eine blühende Industrie. Der „Brotbaum“ wird zum „Tanninbaum“, und für die
Eigentümer war
es wesentlich rentabler die Bäume zur Tanningewinnung abzuholzen als sie wegen
ihrer Früchte zu kultivieren. Die Rettung kam durch die Entdeckung des
synthetischen Tannin Ende der 40-er Jahre. Dieses Tannin war preiswerter und
verdrängte die natürliche Gewinnung : die letzte Tannin-Fabrik schliesst
1962.
Heute ist die Ardèche mit
einer jährlichen Ernte von 5-6000 Tonnen der grösste Kastanienproduzent
Frankreichs und liefert damit fast die Hälfte der Gesamternte des Landes
Sie haben schon
einmal das Deutsche Schuhmuseum Hauenstein besucht. Finden Sie im Aufbau
und in der Zielsetzung Parallelen, was die Pflege des Kulturerbes betrifft?
Natürlich sind die vorhanden! Es geht uns allen ja
darum, dass das Kulturerbe von lokalem oder nationalem Interesse erhalten und
vermittelt wird. Dazu müssen wir es immerwieder neu beleben und aktualisieren,
damit Geschichte Spass macht und Aufmerksamkeit weckt.
Nicht nur die „keusche
Frucht“ ist ein hohes Kulturgut, sondern auch das Holz des Kastanienbaums
ist von hoher Wertschätzung. Es soll ja auch den „castagnou“ geben, einen
Keschde-Wein, der in Kastanien-Fässern reifte.
Bei uns ist der „castagnou“ ein Aperitif vergleichbar
mit dem „kir“: Likör aus Edelkastanien, aufgefüllt mit trockenem Weisswein,
oder die royale Variante mit Sekt – köstlich!
Was das Holz betrifft, wir verwenden es auch heute
für Möbel. Die extravaganteren Stücke entstehen aus den Stämmen der veredelten
Kastanie, die sich ganz von selbst mit zunehmendem Alter aushöhlt. Wir sind
stolz darauf, in unserem Museum eine gesamte Kollektion zu besitzen. Übrigens:
durch den Tanningehalt im Holz verfault dieses nicht, und Feuchtigkeit kann ihm
nichts anhaben; ausserdem wird es nicht von Schädlingen befallen aus demselben
Grunde, daher sind Dachstühle sehr oft aus Edelkastanie, und dann gibt es keine
Spinnweben!
Die Kastanie ist bei
Ihnen auch ein wichtiges wirtschaftliches Standbein. Wieviel Prozent der
Bauern produzieren heute noch wie viel Tonnen und wie werden heute diese großen
Mengen gehäutet und verarbeitet?
Der wirtschaftliche Wert der Edelkastanie in der
Ardèche entspricht einer Vollzeitbeschäftigung für etwa 1000 Personen. Wir ernten heute etwa eine Tonne pro Hektar und das
insbesondere mit Netzen wie bei der Olivenernte.
Frau Falke, herzlichen Dank für das hochinteressante
Interview
